Was wäre, wenn künstliche Intelligenz (KI) so weit entwickelt wäre, dass sie sich selbst exponentiell verbessert – außerhalb unserer Kontrolle oder unseres Verständnisses? Dieser Moment, bekannt als die technologische Singularität, könnte Veränderungen hervorrufen, die so schnell und radikal sind, dass der menschliche Verstand kaum mithalten kann. Ray Kurzweil, ein Visionär auf diesem Gebiet, prognostiziert, dass dieser Wendepunkt zwischen 2045 und 2050 eintreten könnte. Aber was, wenn wir diesem Zeitpunkt bereits viel näher sind, als wir bisher gedacht haben?
Technologische Singularität und der Weg zu AGI
Die technologische Singularität beschreibt ein hypothetisches Zukunftsszenario, in dem Künstliche Intelligenz die menschliche Intelligenz überholt und eine lawinenartige Selbstverbesserung einsetzt
Eine Voraussetzung dafür ist die Entwicklung Künstlicher Allgemeiner Intelligenz (AGI) – also einer KI mit menschenähnlicher kognitiver Leistungsfähigkeit in praktisch allen Bereichen. Einst ein Thema der Science-Fiction, gewinnt die Diskussion um AGI und eine mögliche Singularität heute durch reale KI-Erfolge neue Dringlichkeit. Führende Expertinnen und Experten aus Forschung und Tech-Industrie debattieren intensiv, wie nah wir derzeit an diesem Wendepunkt sind. Dabei reichen die Einschätzungen von sehr optimistisch („AGI innerhalb weniger Jahre“) bis stark skeptisch („nicht in absehbarer Zeit“). Im Folgenden werden der aktuelle Entwicklungsstand, verschiedene Expertenmeinungen – optimistische wie vorsichtige – sowie Prognosen und technologische Meilensteine auf dem Weg zur AGI beleuchtet.
Aktuelle Entwicklungen auf dem Weg zu AGI
In den letzten Jahren hat die KI-Forschung Meilensteine erreicht, die früher utopisch schienen. Moderne Large Language Models (LLMs) wie GPT-4 zeigen bereits überraschend breite Fähigkeiten. Sie können komplexe Texte verfassen, Programmcode schreiben und in standardisierten Tests (etwa in Jura oder Mathematik) mit menschlicher Leistung mithalten. Ein Microsoft-Forschungsteam diskutierte 2023 sogar, ob GPT-4 bereits erste “Funken” von AGI zeige. Auch in anderen Domänen beeindrucken KI-Systeme: So schlug DeepMinds AlphaGo 2016 erstmals Profi-Spieler im Go – ein Durchbruch in einem lange als „unlösbar“ geltenden Spiel. Ebenso gelang 2020 mit AlphaFold die Vorhersage der 3D-Struktur von Proteinen, womit ein Jahrzehnte altes Problem der Biologie gelöst wurde. Solche Erfolge nähren die Hoffnung, dass eine allgemeinere Intelligenz erreichbar ist.
Gleichzeitig zeigt sich, was aktuellen Systemen noch fehlt: Sie verfügen über kein echtes Weltverständnis, robustes logisches Denkvermögen oder die Fähigkeit zu dauerhaftem Planen über längere Zeiträume. Ein Modell wie GPT-4 kann zwar erstaunliche Antworten generieren, scheitert aber mitunter an einfachen Alltagsproblemen oder kontextübergreifendem Verständnis. Diese Limitierungen verdeutlichen, dass heutige KI trotz aller Fortschritte keine echte AGI ist, sondern weiterhin “schmal” spezialisierten Mustern folgt.
Die Dynamik in der Branche hat dazu geführt, dass große KI-Labore das Erreichen von AGI nun explizit ins Visier nehmen. OpenAI etwa formulierte in seinem Unternehmensleitbild das Ziel, eine sichere AGI zu entwickeln, und betont die rasante Beschleunigung des Fortschritts. Auch DeepMind (Google) verfolgt als Kernmission die Entwicklung von “human-level” KI. 2023 wurden Googles KI-Abteilungen (Brain und DeepMind) zusammengelegt, um die Kräfte auf diesem Weg zu bündeln. Diese Entwicklungen haben die Diskussion um den Zeithorizont verändert: Vor einem Jahrzehnt hielten viele Forschende AGI noch für jahrzehntelang entfernt – teils sogar für ein Phänomen der nächsten Jahrhundertwende. Doch durch die jüngsten Erfolge haben sich die Erwartungen deutlich nach vorn verschoben. Immer häufiger ist von einem Zeitraum von Jahren bis wenigen Jahrzehnten die Rede, statt von einem ganzen Jahrhundert.
Expertenmeinungen: Wie nah ist die Singularität?
Optimistische Stimmen
Einige prominente KI-Experten und Tech-Pioniere sind überraschend zuversichtlich, dass AGI bald erreicht wird. Sam Altman, der CEO von OpenAI, äußerte im November 2024, dass er bereits 2025 mit dem Durchbruch zu AGI rechne. Auf die Frage, was ihn im nächsten Jahr am meisten begeistere, antwortete Altman schlicht: „AGI“. Auch andere Visionäre in der Branche sehen die Schwelle zur allgemeinen KI in greifbarer Nähe. Demis Hassabis, CEO von Google DeepMind, schätzt, dass eine menschlich-level KI in etwa 5 bis 10 Jahren Realität sein könnte. Er begründet diesen Zeithorizont mit den zuletzt “unglaublichen” Fortschritten und sieht keinen Grund, warum das Tempo nachlassen sollte.
Auch außerhalb der Forschungsinstitute gibt es optimistische Prognosen. Dario Amodei, Mitgründer des KI-Start-ups Anthropic, traut KI-Systemen zu, bereits in 2–3 Jahren (Mitte der 2020er) die meisten Aufgaben besser zu meistern als Menschen. Jeetu Patel, Technologievorstand beim Unternehmen Cisco, erwartet AGI sogar schon 2025, gefolgt von Superintelligenz nur wenige Jahre später. Tech-Unternehmer Elon Musk wiederum nannte als möglichen Zeitpunkt für das Erreichen von AGI das Jahr 2026. Diese aggressiven Zeitprognosen unterstreichen den Optimismus einiger Industrievertreter – obgleich sie von anderen als zu ambitioniert kritisiert werden.
Ein oft zitierter Vordenker der KI-Zukunft ist der Futurist Ray Kurzweil, der seit Jahren sehr konkrete Vorhersagen macht. Kurzweil hält daran fest, dass Computer bereits 2029 über menschliche Intelligenz verfügen und den Turing-Test bestehen werden. Den eigentlichen Singularitätspunkt – den Moment, ab dem KI sich selbst verbessert und Mensch und Maschine verschmelzen – verortet er weiterhin um 2045. In seinem 2023 erschienenen Buch “The Singularity is Nearer” bekräftigt Kurzweil, dass wir nur noch “wenige Jahre”von menschenhafter KI entfernt seien. Seine Vorhersagen (AGI ~2029, Singularität ~2045) dienen vielen in der Tech-Welt als Bezugspunkt für optimistische Szenarien.
Auch etablierte KI-Forscher haben zuletzt ihre Zeitschätzungen verkürzt. Geoffrey Hinton, Turing-Preisträger und oft als „Godfather of AI“ bezeichnet, ging noch vor wenigen Jahren von 30–50 Jahren bis zur AGI aus. 2023 jedoch korrigierte Hinton seine Prognose drastisch und sprach davon, dass in 5 bis 20 Jahren KI den Menschen übertreffen könnte. Er schränkt ein, dass dies eine unsichere Schätzung sei – niemand wisse es genau – doch gerade diese Ungewissheit bei gleichzeitig rasantem Fortschritt bereite ihm Sorge. Hinton steht mit dieser Einschätzung sinnbildlich für eine wachsende Gruppe von Fachleuten, die zwar AGI relativ baldfür möglich halten, gleichzeitig aber vor den damit verbundenen Risiken warnen.
Skeptische Stimmen
Trotz dieser optimistischen Töne gibt es viele Experten, die die Entwicklung weitaus vorsichtiger einschätzen. Robin Li, der CEO des chinesischen Tech-Konzerns Baidu, meint, echte AGI sei noch mehr als ein Jahrzehnt entfernt – er rechnet also frühestens in den späten 2030er Jahren mit menschenähnlicher KI. Der Turing-Award-Träger Yoshua Bengio äußerte ebenfalls, es sei kaum seriös vorhersagbar, wie viele Jahre oder Jahrzehnte es noch bis AGI dauere; jede konkrete Jahreszahl sei mit großer Unsicherheit behaftet. Entsprechend mahnt Bengio zur Demut bei Prognosen. Ähnlich vorsichtig argumentiert der bekannte KI-Vordenker Andrew Ng, der AGI weiterhin für eine Angelegenheit von mehreren Jahrzehnten hält und davor warnt, den jüngsten Hype um „generative“ KI mit einem tatsächlichen Durchbruch zu verwechseln.
Manche Forscher gehen mit ihrer Skepsis noch weiter. Der renommierte Robotik-Experte Rodney Brooks (MIT, Mitgründer von iRobot) ist überzeugt, dass im 21. Jahrhundert keine AGI erreicht wird – er prognostiziert ihre früheste Ankunft eher um das Jahr 2300. Solche extrem zurückhaltenden Stimmen unterstreichen, dass ein Teil der Fachwelt einen AGI-Durchbruch in absehbarer Zukunft für unwahrscheinlich hält. Auch Gary Marcus, ein bekannter kritischer KI-Forscher, betont die Grenzen aktueller Ansätze. Marcus argumentiert, dass das heutige Deep Learning – also das bloße Skalieren von Modellen mit immer mehr Daten und Rechenleistung – nicht ausreichen wird, um echte allgemeine Intelligenz zu erreichen. Seiner Einschätzung nach sind konzeptionell neue Durchbrüche nötig, damit KI ein menschliches Verständnis und echte Vernunft erlangt. Bislang zeigten Systeme wie GPT-4 zwar beeindruckende Sprachfähigkeit, jedoch auch grundlegende “Denkfehler” (Haluzinationen, mangelndes Alltagsverständnis), was für Marcus ein Indiz ist, dass wir von einer wahrhaft allgemeinen Intelligenz noch entfernt sind.
Ein Blick in die Geschichte der KI-Forschung mahnt ebenfalls zur Vorsicht. Immer wieder lagen Experten mit zeitlichen Vorhersagen falsch. Der KI-Pionier Herbert A. Simon etwa verkündete bereits 1965, dass Maschinen „innerhalb von zwanzig Jahren“ alles leisten könnten, was ein Mensch kann. Diese Prognose (AGI bis 1985) erwies sich bekanntlich als weit verfehlt. Ähnliche Überschätzungen gab es in den 1970er und 1980er Jahren (z.B. im Rahmen des japanischen 5. Generation Projekts). Diese Vergangenheit führt heutigen Prognostiker*innen vor Augen, wie groß die Unwägbarkeiten sind – und dass trotz aktueller Erfolge noch erhebliche technische Hürden bestehen, bevor von echter AGI gesprochen werden kann. Skeptische Stimmen betonen daher, dass Durchbrüche wie die Singularität eher in Jahrzehnten als in Jahren zu messen sind und vielleicht ganz neue Methoden erfordern, die wir heute noch nicht kennen.
Prognosen und technologische Meilensteine
Die Spannbreite der Zeitprognosen für AGI und eine mögliche Singularität ist insgesamt sehr groß. Einige Experten – insbesondere aus der Tech-Industrie – halten einen Durchbruch noch vor 2030 für wahrscheinlich, während andere ihn frühestens Mitte des 21. Jahrhunderts erwarten. Ray Kurzweil nennt das Jahr 2029 als Zeitpunkt, an dem KI die menschliche Ebene erreicht. Die Mehrheit der befragten KI-Forscher sieht den Median ihrer Schätzungen jedoch eher in den 2040er Jahren. So ergab etwa eine Umfrage unter 2.778 KI-Experten im Jahr 2023 eine 50%‑Chance für High-Level Machine Intelligence (HLMI) um das Jahr 2040. Ähnliche Erhebungen in den letzten Jahren verorten die 50-Prozent-Wahrscheinlichkeit meist im Bereich 2040 bis 2050 – Tendenz fallend: Noch 2012 gingen viele vom Jahr 2080+ aus, 2016 lag der Median um 2050, und aktuelle Befragungen tendieren Richtung frühes 21. Jahrhundert. Diese Verschiebung nach vorne hängt eng mit den beschleunigten Fortschritten seit 2010 zusammen. Allerdings herrscht keine Einigkeit: Die Unsicherheit ist hoch und die Vorhersagen divergieren stark. Viele Experten betonen, dass AGI wesentlich früher oder wesentlich später eintreffen könnte – beides liege im Bereich des Möglichen, da KI-Entwicklung nicht linear verläuft. Entsprechend vorsichtig sind seriöse Prognosen zu genießen.
Als Indikatoren für die Annäherung an AGI gelten bestimmte technologische Meilensteine und Tests. Ein klassischer Maßstab ist der Turing-Test (ein KI-System führt ein Gespräch so, dass es nicht mehr von einem menschlichen Gesprächspartner zu unterscheiden ist). Bis heute hat jedoch kein KI-System einen uneingeschränkten Turing-Test bestanden – ein Hinweis, dass wir die menschliche Sprach- und Denkflexibilität noch nicht voll erreicht haben. Allerdings werden immer wieder neue Benchmarks entwickelt, um den Fortschritt zu messen. Ein Beispiel ist der von OpenAI und dem Alignment Research Center entworfene ARC-AGI Benchmark, der bestimmte kognitive Fähigkeiten und Problemlösekompetenzen prüft. Hier steigerte sich GPT-4 innerhalb weniger Monate von nur etwa 5% erfüllter Anforderungen (Anfang 2024) auf 87,5% und übertraf damit sogar den menschlichen Referenzwert von 85%. Dieses Resultat wurde als Hinweis gewertet, dass aktuelle Modelle sich dem Bereich allgemeiner Problemlösefähigkeit annähern. Ebenso bemerkenswert sind Leistungen neuester Modelle in vielfältigen standardisierten Tests – von Hochschulaufnahmeprüfungen bis zu Fachexamina – bei denen sie inzwischen oft in menschlichem Leistungsbereichagieren. Solche Erfolge wären vor wenigen Jahren undenkbar gewesen und dienen Befürwortern als Argument, dass AGI in Reichweite kommt.
Ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zu AGI ist die Fähigkeit von KI-Systemen, eigenständig neues Wissen zu erarbeiten oder sogar ihre eigene nächste Generation zu verbessern. Erste Experimente mit selbststeuernden KI-Agenten (AutoGPT und ähnliche Systeme) zeigen hier Potenzial – etwa indem eine KI in Schleife Aufgaben plant, ausführt und aus Fehlern lernt. Allerdings stehen diese Ansätze noch am Anfang und haben Schwierigkeiten, komplexe Aufgaben zuverlässig zu Ende zu führen. Experten wie Demis Hassabis betonen, dass für echte AGI besonders eine Art Weltmodell entscheidend ist: Eine KI muss die Fähigkeit entwickeln, die reale Welt und Kontextinformationen ähnlich wie ein Mensch intern abzubilden und nachzuvollziehen. Außerdem könnte die Kooperation mehrerer spezialisierter KI-Agenten (Multi-Agent-Systeme) ein Schlüssel sein, um komplexe Probleme zu lösen, die ein einzelnes System überfordern. Sollte eine KI diese Hürden – Kontextverständnis, robuste Planung, Transferlernen über Domänen – überwinden, käme dies einem Durchbruch Richtung AGI gleich. Viele Forschende achten daher auf Anzeichen von emergenten Fähigkeiten in neuen Modellen (d.h. Fähigkeiten, die aus schierer Größenskala plötzlich entstehen). Solche Indikatoren werden als Wegweiser gesehen, wie nah wir der allgemeinen Intelligenz und damit einer möglichen Singularität kommen.
Ist AGI einmal erreicht, könnte der Übergang zur Singularität selbst unter Umständen sehr schnell folgen. Einige Fachleute vermuten, dass eine AGI, die sich durch höhere Geschwindigkeit und Verbesserungsschleifen selbst weiterentwickeln kann, innerhalb kurzer Zeit eine Superintelligenz hervorbringen würde. Vertreter von OpenAI etwa schätzten 2023, dass eine übermenschliche KI unter Umständen in weniger als 10 Jahren nach Erreichen von AGI entstehen könnte Ray Kurzweil und andere Futuristen prognostizieren den eigentlichen Singularitätspunkt – die Phase unkontrollierbarer, irreversibler KI-Explosion – im Zeitraum 2045 bis 2060. In Umfragen unter Experten wird diesem Szenario um die Mitte des Jahrhunderts teils bereits eine beträchtliche Wahrscheinlichkeit eingeräumt (z.B. ~50% bis 2059). Gleichzeitig warnen viele, dass ein solches Ereignis beispiellose Auswirkungen hätte – positiv wie negativ – und daher nur mit großer Vorsicht betrachtet werden sollte. Letztlich unterstreicht die Bandbreite der Prognosen vor allem, wie unsicher das Timing ist: Es reicht von kurz- bis langfristig, je nachdem, welcher wissenschaftlichen Argumentation man folgt. Bis zur tatsächlichen Verwirklichung von AGI bleiben die Entwicklungen genau zu beobachten. Jedes neue KI-Modell, das in Bereichen wie Verständnis, autonomer Handlung oder Lernfähigkeit einen Qualitätssprung zeigt, könnte ein Hinweis darauf sein, dass wir der Singularität näherkommen.
Fazit
Zusammenfassend gibt es derzeit keinen Konsens darüber, wann (oder ob) die technologischen Singularität eintreten wird – die Spannweite der seriösen Einschätzungen ist enorm. Während Optimisten glauben, dass wir kurz vor dem Durchbruch zu AGI stehen, weisen Skeptiker auf zahlreiche verbleibende Herausforderungen hin und halten einen langen Weg für wahrscheinlicher. Sicher ist: Die KI-Forschung macht weiterhin rasante Fortschritte, und was heute noch als Grenze erscheint, könnte morgen bereits überschritten sein. Jede neue Generation von Modellen bringt uns potenziell näher an die Vision einer allgemeinen Intelligenz, auch wenn der genaue Pfad dorthin unvorhersehbar ist.
Angesichts der potenziell tiefgreifenden Auswirkungen einer echten AGI – von revolutionären Lösungen für globale Probleme bis hin zu existenziellen Risiken – sind sich Experten zumindest in einem Punkt einig: Wir müssen die Entwicklung aufmerksam und verantwortungsbewusst begleiten.
Quellen: